In einer Zeit, in der alle Dinge von einer Magie beseelt waren, lebten unsere Stämme vor zwei Jahrtausenden im Herzen Europas. Dort sind die Gebeine unserer Vorfahren begraben, die uns Druiden besondere Kräfte verleihen. Unser tiefer Glaube verleiht uns die Gabe, die zahlreichen Götter, Feen und Geister der Natur zu erkennen. Aber es gibt auch Wesen, die aus anderen Welten zu uns kommen.
Vor dem Beginn der Zeit schlossen die Menschen einen vergessenen Vertrag mit diesen Wesen. Um die Erinnerung an diesen Bund wach zu halten, sollten die Feierlichkeiten zu Samhain immer vom 30. Oktober bis zu Allerheiligen andauern. Durch dieses Ritual der feierlichen Gemeinsamkeit schützen sich die Menschen gegenseitig vor den herumziehenden Kobolden und Wiedergängern.
Wir, die Druidenschaft, haben uns der Bewahrung der Menschen vor der Gewalt dieser Kreaturen verschrieben. Wir sind die Hüter vom Samhain und wachen in diesen beiden unheiligen Nächten über die bekannten Übergänge zur Welt der Menschen. Es ist der gefürchtete Einbruch der Kälte, die selbst der Natur mit dem Tod droht, wenn die Wolken des Himmels auf Erden streifen. Die Verschränkung der Welten schneidet widernatürlichen Passagen zwischen unserer und der Anderwelt, wodurch düstere und todbringende Kräfte die Menschen heimsuchen. Deshalb folge diesem Rat: Was immer Du tust, walte zu Samhain mit Vorsicht über Deine Wünsche, denn sie könnten in Erfüllung gehen!
„Ich weiß nicht, woran es liegt, aber seit einiger Zeit störe ich mich sogar an dem Schlürfen meines Mannes Frank. Früher fiel mir das vielleicht einfach nur nicht auf, aber jetzt stört es mich ungemein. Es macht mich richtiggehend wütend. Verstehen Sie?“, bekennt Silke, als sie bei Dr. Glücklich zur Therapiestunde ist.
Silke stellt für sich fest, dass sie mit Recht davon genervt ist. Sie richtet sich auf, um ihrem inneren Aufruhr eine Haltung zu geben. Immer wieder versinkt Silke in dieser Ledercouch und muss sich dann wieder nach vorne kämpfen. Auch das enerviert sie, aber das würde sie ihrer Therapeutin niemals sagen. Aus der Versenkung aufgestiegen, rutscht sie sich auf dem Kissen ein. Das knarzende Geräusch der Ledercouch strapaziert Silkes Nerven weiter. Fast wäre ihr verbal ein aufgebrachtes ‚Mann!‘ entglitten, aber sie hält an sich. Das gehört sich als Frau so. Männer dürfen das. Wieder eine Ungerechtigkeit, denkt Silke und empört sich stärker über die Welt und ihre Stellung darin. Umso mehr Auflehnung legt Silke in die Anklage an ihren Mann: „Es ist auch eine pure Zerreißprobe, wenn Frank das Essen einsaugt, wenn er sich einen Löffel in den Mund steckt! Ich sage ihm dann immer, er möge es sein lassen. Aber er reagiert nicht mal. Nichts. Einfach Totenstille.“
Die Therapeutin blickt mit gesenktem Kopf über den oberen Rand ihrer Brille und fragt: „Wie fühlen Sie sich dabei, wenn Ihr Mann Frank sich dazu nicht äußert?“
Silke entrüstet sich: „Das fragen Sie meines Erachtens etwas zu oft. Warum sagen Sie mir nicht einfach, was ich denke und wir umgehen diesen ganzen Firlefanz?“
Die Therapeutin reagiert wie Silke es erwartet: „Warum denken Sie, sollte ich das tun?“
Das facht Silkes innerliche Erregung weiter an, doch sie schraubt ihren Frust zurück und blickt auf die Uhr. Es ist gleich schon nach 18 Uhr. Die Stunde ist quasi vorbei und gefühlt ist Silke kein Stück weitergekommen mit ihrem Problem namens Frank.
Silke schnaubt und verfällt der Nostalgie: „Ich hatte so viel Potenzial, aber ich habe es für diesen Mann verschwendet. Ich sollte mich einfach von ihm trennen. Das hätte ich schon vor Jahren tun müssen. Ich hätte nie überhaupt…“
Silke beendet den Satz abrupt, denn den will sie nicht laut aussprechen. Doch Dr. Glücklichs Gesicht ermutigt sie, was sie mit einer weiterführenden Handbewegung gestikulierend unterstreicht.
Doch anstatt darauf einzugehen, gibt die Therapeutin nur einen Allgemeinsatz zum Besten: „Sie Wissen, Frau Eichmann, ich bezeichne das auch gerne als Lebensbewältigungscoaching.“ Mit einem leicht verschämten Gesichtsausdruck fügt Dr. Glücklich sich selbstlobend hinzu: „Eine kleine Worterfindung von mir, die ich noch registrieren lassen werde“, um dann wieder zum Standardprogramm zurück zu kommen: „Das Wichtigste ist, dass man sich mal aussprechen kann. Niemand lässt Sie aussprechen, weil alle nur an sich denken. Nun, bei uns ist das anders. Lassen Sie alles raus. Sprechen Sie es aus.“
Doch Silke bleibt still. Sie hat sich schon genug offenbart. Die Stille des Redezwangs drängt sich minutenlang auf, bis die Therapeutin das Ende der Stunde verkündet und ihrer Patientin rät: „Bleiben Sie an diesem Gefühl, erkunden Sie es. Finden Sie den Ursprung oder den Hintergrund dessen. Wir sehen uns am Donnerstag zur nächsten Stunde, ja?“
Unbefriedigt über die Antwort von Dr. Glücklich zum Sinn des Lebens steht Silke abrupt auf und besiegelt mit einem trotzigen Tonfall ihr Gefühl, unverstanden zu sein: „Ja, auch das sagen Sie immer. Wenn ich die ganze Arbeit mache, wofür brauche ich Sie dann?“
Mit einem versöhnlichen Tonfall erklärt Dr. Glücklich: „Ich führe Sie nur durch sich selbst. Ich kann ihnen das leider nicht abnehmen.“
„Ich weiß“, entgegnet Silke und entschuldigt sich für ihr Verhalten, obwohl sie eigentlich jedes Recht hat, schnippisch zu sein.
Die Therapeutin bringt sie zur Tür und verkündet Silke: „Frau Eichmann. Sie haben heute Fortschritte gemacht. Das ist das Wichtigste!“
Etwas beschwichtigt verlässt Silke die Praxis und schleicht demotiviert davon, ihr Leben einfach fortführen zu müssen, die Treppen hinab. Als sie vor der Eingangstür des hässlichen Betonklotzes steht, in dem die Praxis untergebracht ist, geht es Silke schon etwas besser. Sie atmet tief ein und aus. Dieses Ritual wurde inzwischen zur wichtigsten Regelmäßigkeit beim Verlassen eines Hauses. Der letzte Gang sollte auch so enden, beschließt sie in dem Augenblick. Diese Atmungsübung verleiht ihr ein Gefühl von Freiheit. Vielleicht sinnvoller, als das Geld und die Zeit in diese Therapie zu investieren. Zumindest in diesen Moment kann Silke das Leben vollumfänglich und uneingeschränkt genießen.
Der Weg zu ihrem Auto führt Silke am Stadtsee von Waller vorbei. Sie schlendert durch das herbstliche Bild, bleibt gelegentlich stehen und schmachtet fröstelnd dem Sommer nach. Die Bäume sind bereits ihrem Blätterkleid entschlüpft und die Laternen setzen den alljährlichen Todeskampf der Bäume in Szene. Das Licht bricht sich fahl durch den Nebel, der wie eine geisterhafte Erscheinung auf den See ruht.
Von den Menschen unbemerkt, könnte sich auf dem Grund des Sees auch das Tor zur Hölle befinden. Die seltsamen Gedanken erschrecken Silke selbst. Sie nimmt einen weiteren tiefen Zug des Lebens in sich auf.
Obwohl die Tage zum Ende des Oktobers noch golden und warm sind, kühlt es in der Nacht empfindlich ab. Die Wärme der letzten Wochen animierte offenbar die Weiden dazu, wieder auszuschlagen als stände der Frühling bevor. Silke bemerkte jüngst auch, dass in ihrem Garten Einiges wieder zu blühen beginnt. Die Nelken wollte sie eigentlich längst herausgerissen haben, aber sie blühen noch oder vielmehr schon wieder. Selbst die Tauben, so konnte es Silke von ihrem Fenster aus beobachten, haben ihr Liebesdrängen aufgenommen. Silke erklärt die Welt für verrückt.
Aber der zähe Nebel, der alljährlich für zahlreiche Unfälle und Verkehrsbehinderungen sorgt, ist auch dieses Jahr wieder überall vertreten. Der relativ hohe Taupunkt sorgt schon am Nachmittag für eine sichtbare Wasserbarriere in der Luft. Und mit jedem Tag wird es früher dunkel und länger kalt.
Für diese Momente gilt, eine Jacke ist absolut vonnöten. Silke gewöhnt sich einfach nicht an das plötzliche Absacken der Temperaturkurve. Viel zu kurz ist der Sommer, schimpft Silke innerlich, und dies trotz seiner ausgedehnten Länge der letzten Jahre.
Doch Silke kann dem auch etwas Positives abgewinnen. Diese Melange aus Dämmerung und intensivem Geruch nach abgeworfenem Laubwerk weckt Erinnerungen an eine freiere Zeit, in der sie jung war und das ganze Leben vor ihr lag. Ein Lächeln legt sich wie ein Schleier auf ihr Gesicht, als Silke für sich beschließt: ‚Früher war alles besser.‘ Sie schließt die Augen und lächelt. Dann öffnet sie ihre Augen wieder und erblickt Halloween-Dekorationen. Kitsch in Form und Farbe, der schon zu Weihnachten in unerträglicher Fülle in den Augen brennt. In ihrer Jugend wurde Halloween noch nicht gefeiert. Heute erscheint es ihr, als hätte es das schon immer gegeben. Gruseldekoration allerorten, beklebte und beleuchtete Kürbisse und Gruselfilme im Fernsehen. Silke sah darin ein, wie es ihr Vater immer sagte, amerikanisches Kommerzfest, um den Absatz der Läden noch etwas zu erhöhen. Silke war überzeugt, Halloween dient allein der Ausbeutung der Geldbeutel. Aber die ständigen Wiederholungen des Festes überziehen Halloween mit dem Mantel der Gewohnheit, wodurch es erträglicher wird. Das eigene Haus zu dekorieren, empfindet Silke aber noch zu übertrieben, auch wenn ihre Nachbarschaft das offenkundig anders sieht. Sie würde es vielleicht tun, überlegte sie kürzlich. Aber eingedenk des enormen Aufwands, den die Nachbarn treiben, kann Silke gar nicht punkten. Die Dinge der Kreativität sind nicht so ihr Ding. Ihr Ding ist es, ihren Willen zu bekommen. Auch wenn sie dieses Talent ausbauen müsste.
Ein lautes Streitgespräch lenkt Silkes Aufmerksamkeit auf ein vorüberziehendes Pärchen. Silke passt ihre Schrittgeschwindigkeit an das Pärchen an, um auch alles gut hören zu können. Schließlich, so die eigene Zurechtlegung, folgt sie nur dem Weg zu ihrem Auto. Das Gespräch erscheint Silke schon wegen des ähnlichen Alters aufschlussreich und sie glaubt von sich, eine ausgezeichnete Menschenkenntnis zu haben. Das war aber in diesem Augenblick gar nicht nötig. Die klischeebeladene Szene verdeutlicht seine Midlifecrisis als Thema des Disputs. Wie aus dem Bildchen-Sammelband erscheint Silke der unfreiwillig-komische Versuch des Mannes, sich durch Kleidung ein bisschen Jugendlichkeit zu verleihen. Und so vernimmt Silke die ermutigende Äußerung der Frau in diesem Streitgespräch: „Dieses ganze Zweiter-Frühling-Gequatsche kannst du dir sparen. Ich habe mein verdammtes Leben damit verbracht, es dir recht zu machen und jetzt kommst du her, und erzählst mir, dass du eine Jüngere bumst. Gib mir meine verfluchten Jahre zurück und steck dein Ding in ein Wespennest.“
Silke bewundert die Stärke der Frau und bezeugt dies mit einem Blick. Die Frau ihrerseits dankt Silke visuell, was auch Silkes Selbstbewusstsein stärkt. Davon angefeuert, beschließt Silke, weiter am See entlang zu flanieren, auch wenn der alte Frank daheim bestimmt wieder nur fernsieht, so Silkes Gedankengang, anstatt mit Ben die Hausaufgaben durchzugehen.
Silke kommt auf einer kleinen Brücke zum Stehen. Sie blickt auf den in Dunkelheit gehüllten See vor ihr, auf dem sich das fahle Licht der Laternen verschwommen spiegelt. Einige Enten spritzen noch übers Wasser und überall fällt das Laub herunter. Malerisch ziehen Nebelschwaden über den See, die Hall und Licht in sich aufnehmen und sie vor der Welt geheim halten. Erneut nimmt Silke einen tiefen Zug der feuchten Luft des herbstlichen Sees in sich auf.
Die Schwere der Schuld, so fasst sie ihre Gedanken zusammen, ist Frank aufzulasten. Dabei ist es nicht mal er, es sind die Männer. So sind die Männer eben. Die Männer sind schuld, wie ihr Mann schuld ist. Es war ihr wie ein endloser Kreislauf, der sich wie ein genetischer Code durch die Geschichte zieht. Es ist, wie es immer war. Die Frauen sind die Verlierer in diesem Spiel. Und Silke hat diesen Umstand einfach nur satt.
In dieser Pose verharrend überlegt sich Silke, wie sie damit auf andere wirkt. Was würde sie selbst wohl über eine Frau mittleren Alters denken, die verkrampft auf einer Brücke steht und schreit. Der scheue Umblick, wer sie wohl gesehen haben mag, hinterlässt bei Silke einen Kälteschauer, der sich von ihrem Hinterkopf langsam den Rücken hinabbewegt und, wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, wieder emporkriecht. Während die Gänsehaut alle feinen Härchen zum Aufstehen zwingt, sorgt sich Silke um ihren Geisteszustand. Durch das dämmernde Licht der Abendstunden erscheint Silke die Welt seltsam eingefroren. Sie bemerkt, dass kein Geräusch die Luft durchdringt, keine Person in der Umgebung steht und kein Geruch in die Nase steigt. So stellte sie sich als Kind die Welt nach einer Neutronenbombe vor. Die nackte Panik ergreift Silkes Geist und schwitzenden Körper, dessen Herz den Rhythmus eines Kolibris übt. Die Welt scheint den Atem anzuhalten, als hätte jemand die Pause-Taste im Echtzeit-3D-Filmtheater des Lebens gedrückt.
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Verbunden mit der Hoffnung auf eine Steigerung der Spannung, vergebe ich 3,5 Sterne ;)
Das werte ich als 4 Sterne :) Gerne auch beim Buch mit einer Rezension auf Amazon vergeben :)